Immer noch New York by Lily Brett

Immer noch New York by Lily Brett

Autor:Lily Brett [Brett, Lily]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Gegenwartsliteratur, Belletristik
ISBN: 9783518424674
Google: fviqoAEACAAJ
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2014-10-29T04:00:00+00:00


Einsamkeit

Für diejenigen unter uns, die sich schnell einsam fühlen, ist New York ein hervorragender Ort. Hier herrscht immer Gewimmel. Ein Gewimmel voller Lebenswärme, voller Bewegung und Zielstrebigkeit. Diese Stadt reißt einen in ihre Wärme hinein. Man kann in New York allein sein. Und dennoch nicht einsam.

Ich habe mich oft einsam gefühlt. Eigentlich bin ich überhaupt nicht einsam. Ich lebe mit einem Mann zusammen, der mich liebt. Der mich liebt, wenn ich fürchterlich aussehe. Der mich liebt, wenn ich mich unmöglich benehme. Der mich einfach liebt. Ich habe Kinder, die mich lieben. Und meine Kinder haben Kinder.

Mein Vater lebt noch. Er liebt mich. Und ich habe enge Freunde. Inmitten dieses Füllhorns von Liebe kann ich dennoch eine unendliche Einsamkeit spüren und spüre sie oft. Eine Einsamkeit, die so tief in meinem Inneren verwurzelt ist, dass sie sich ausnimmt wie ein Teil meines Kreislaufs oder meines Hörvermögens oder meiner Blutgefäße. Es ist kein gutes Gefühl.

Wenn ich mit meiner Familie oder meinen Freunden zusammen bin, spüre ich die Einsamkeit nicht. Ich male mir oft aus, ein Haus mit ein oder zwei meiner Kinder oder mit ein oder zwei Freunden zu teilen. Ich denke, das könnte die Einsamkeit lindern. Aber in unserer zunehmend mobilen und zunehmend teuren Welt hat dieser Traum wenig Aussichten auf Verwirklichung. Und vielleicht ist er ohnehin ein Hirngespinst.

Letztes Jahr habe ich meine Tochter in Seattle besucht. Am ersten Tag meines Besuchs stand ich nach einem bis zum Gehtnichtmehr verspäteten Flug von New York und der Ankunft in Seattle um zwei Uhr morgens in der Küche meiner Tochter. Die Stimmung war angespannt. Meine Tochter, die ich über alles liebe und schmerzlich vermisse, wenn sie nicht in meiner Nähe ist, kann in der Küche ziemlich herrisch sein. Sie ist eine hervorragende Köchin und nimmt es mit allem, was in der Küche vor sich geht, sehr genau. Vor allem in ihrer eigenen Küche.

Ich beging den Fehler, sie zu bitten, nicht so herrisch zu sein.

Was folgte, waren einige Minuten eines sehr gereizten Wortwechsels, bis ihr dreijähriger Sohn hereinkam und sagte: »Habt ihr Streit?«

»Nein, Schätzchen«, sagte sie. »Wir diskutieren nur.«

Er ging hinaus.

»Er ist doch nicht blöd«, sagte ich zu meiner Tochter. »Er weiß, dass wir streiten.«

Die gereizte Stimmung blieb. Irgendwann sagte ich ein bisschen unüberlegt, ich könnte genauso gut nach Hause zurückfliegen. In diesem Augenblick kam ihr Dreijähriger wieder herein. Mit ernster Miene. Er stellte sich vor uns hin, deutete mit dem Zeigefinger auf uns und sagte mit einer entschiedenen Geste des rechten Arms: »Ich will, dass ihr zu streiten aufhört!« Dann drehte er sich um und marschierte aus der Küche.

Meine Tochter und ich begannen zu lachen. Sie entschuldigte sich für ihr herrisches Auftreten, und ich entschuldigte mich für meine Drohung, nach Hause zu fliegen. Danach herrschte fast ungetrübte Eintracht.

Ich verbringe ziemlich viel Zeit allein. Und das ist mir ganz recht. Das sind die Zeiten, in denen ich nachdenke und die Zeiten, in denen ich schreibe. Wenn ich schreibe, fühle ich mich überhaupt nicht einsam. Ich weiß nicht, wohin die Einsamkeit zu diesen Zeiten entschwindet.

Ich habe mich immer einsam gefühlt.



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